Das Mirakle der (meist) Erstgeborenen – und warum der Kapitalismus die Kompression nicht leiden kann

What the heck ist eine EP, eine LP und eine VLP? Warum ihr euch dringend mit EPs volldröhnen solltet und in welchem Zusammenhang diese mit LPs und der Bandhistorie stehen, das könnt ihr euch in den folgenden Zeilen erlesen. Klingt vielleicht langweilig, ist es aber nicht, glaubt mir!

Extremly powerful? Epic performance? Expressional piece? Nein, die Abkürzung „EP“ bedeutet „Extended Play“ und meint einen auf einem Medium gespeicherten Bundle von Songs, der es aber nicht zur „LP“ – also dem „Long Play“, einem regulären Album – geschafft hat, da nicht genügend Titel produziert und somit die entsprechende Länge nicht erreicht wurde. Aber findet ihr nicht auch, dass EPs meistens die pure Geilheit, komprimiert auf einem dezentem Speichermedium ist?
Ich denke da spontan an „Lord of Woe“ (2010) von MAKE THEM SUFFER, THY ART IS MURDERs „Infinite Death“ (2008), an die „Chelsea Grin EP“ (2008) von der gleichnamigen Band CHLSEA GRIN bzw. deren EP „Evolve“ (2012), die EP „Doom“ (2005) von JOB FOR A COWBOY oder die gute alte „Suicide Silence EP“ (2005).

Thy Art is Murder - Infinite Death EP

In der Kürze liegt die Würze…

Auffällig ist das übergreifend beobachtbare Phänomen, dass die kurzen EPs meistens entstanden sind, bevor die Bands wirklich famos waren und bevor die LPs released wurden. Das hängt wahrscheinlich auch hauptächlich damit zusammen, dass die Metalgroups noch keine souveränen Lables hatten mit deren Hilfe sie hätten erste professionelle, voluminöse LPs aufnehmen und durch fachkundige und routinierte Workflows, größere Erfolge in längeren LPs festhalten können.
Aber die in meinen Augen unübersehbare und faszinierende Kraft die in so vielen EPs zu finden ist, ist der Charakter der oben bereits angesprochenen bedingungslosen Komprimierung. In erster Linie sind EPs mit Herzblut geschmiedete kurz, pregnant und auf das Wichtigste konzentrierte, exzesskatalysierende Meisterwerke, die ebenso natürlich wirken wie das Atmen. Während des Anhörens all der oben genannten beispielhaften EPs feiern meine Synapsen eine dauerhaft erregte Party-Orgie, die in tourettverwandten Äußerungen meines Körpers zur Geltung kommt. Mein Kopf ist hinterher dann so ausgebrannt und durcheinander, dass sich meine Neurotransmitter – wie Rotkäppchen im Wald vom Wolf vom Weg ableiten lässt – so von der Musik in völlig unkontrollierte Gehirnareale verleiten lassen, dass danach Serotonin, Adrenalin und Acetylcholin wie Harry Potter den Feuerkelch im Labyrinth meines Kopfes suchen und sich bei Aufeinandertreffen gegenseitig verzaubern.
Mit anderen Worten: ich komme auf diese EPs gar nicht klar, weil sie gleichermaßen präzise, wie auch gigantisch sind.

In der Zeitspanne von 2005 bis 2012 sind etliche geniale EPs geboren worden, die deren väterlichen Bands zu Giganten im Genre und einflussreichen Wölfen in der Szene rühmten – einzigartig und gierig nach unschuldigen Lämmern. Oder eben potenziellem Publikum.

 

Es muss von tief Innen herauskriechen

Mehr Kunst innerhalb der bündigen Baby-Alben geht gar nicht: die Bands haben im Geiste ihrer jugendlichen Naivität unverblühmte Musik portraitiert, die durchwachsen von dicken, knackigen und klaren Pinselstrichen ist. Tief aus dem Herzen kommend und ohne groß darüber nachzudenken, kamen diese natürlichen Werke in der Rohbau-Form der Bands zustande. Das ist es meiner Meinung nach auch, was die EP-Babies so kraftvoll und locker leicht macht. Das ist es was ich – und ich glaube viele andere Metalbegeisterte – so daran schätze. Ich kann mich darin verlieren, da sie oft mit vielschichtigen und Aufbruchsstimmung-artigen Drums, experimentierfreudigen Gitarren und diesen powergeladenen und individuellen Vocals ausgestattet sind, die auch für die kräftig musikalischen Windstöße verantwortlich sind.

Die Künstler hatten sich noch Mühe gegeben bei der Produktion, sich Herausforderungen gestellt und fantastische, mit jugendlicher Frische betuchte Lösungen gefunden. Und das merkt man wie ich finde auch deutlich. Das ist es doch, was gute und künstlerisch wertvolle Musik ausmacht.
Es wurde nicht einfach nur immer gescreamt, weil das Growlen lufttechnisch zu anstrengend war, nein teilweise wurde sogar so mit der Stimme so herumgespielt, dass Audiospuren übereinander gelegt wurden, um einen satteren und brachialeren Klang zu erzeugen. Ok, eventuell hat dieser Aspekt auch mit meiner persönlichen Präferenz zu tun, dass sich Growls und Screams die Waage bieten sollten. Aber auch Pigsqueals und andere Techniken, wurden der Vielfältigkeit und Experimentierfreudigkeit halber häufig mit eingebaut. Das wirkt dann so halt wirklich interessant und nicht zu einfältig.

make_them_suffer___lord_of_woe_by_soulnex-d5d1iff

Always be naïve to get your things thrown correctly into the Amazon

Und auch instrumental wurde durch viel Progressivität und Rhythmuswechsel für angeregte Stimmung gesorgt. Natürlich ist es nicht jeder Bands Stil, mit progressiven Elementen zu arbeiten, doch kann man feststellen, dass die EP-Phase einer Band sie mit höherer Wahrscheinlichkeit damit in Berührung setzt, einfach weil man sich noch in der Findungsphase befand. Paradoxerweise äußert sich diese frühe Findungsphase, die in engem Zusammenhang mit der oben erwähnten erhöhten Experimentierfreudigkeit steht, nicht in Unsicherheit. Im Gegenteil hat die leichtsinnige Art der jungen und ebenso unerfahrenen Musikgruppen vielmehr dazu geführt, dass die EPs mit überraschend eigenständiger und klarer Präzision geschaffen wurden und entsprechend eisern, beständig in die Welt gesetzt wurden. Somit steckt auch viel Überzeugungskraft und Charisma dahinter, welche durch die meist knallharten und direkten Breakdowns untermauert wurde. Die Babies wurden mit so großer Selbstsicherheit in den Amazonas der Metalszene geworfen, dass sich kein Piranha auch nur im Traum hätten wagen wollen, sie anzugreifen. Viel eher erzeugte diese musikalisch ausgedrückte, eiserne Hülle ein Mahl, an dem alle Fische teilhaben und sie genüsslich verspeisen konnten. Deswegen gibt es auch so viele Metaller, denen Ketten am Hintern oder sonstige metallische Gegenstände aus der Haut heraus ragen – selbsterklärend.
Überzeugend wie ein Wissenschaftler, selbstsicher wie ein Macho, vielschichtig wie eine Zwiebel, leicht wie eine Feder, frech wie ein kleiner Junge und knackig wie ein Keks – perfekt eben. Alles voraussetzungen, auf deren Basis der Gefallen vieler Zuhörer setzt. Und mehr noch; all diese Dinge nehme ich als Hörer in den Klängen der EPs wahr und diese nehmen mich mit auf eine Reise durch all diese Zustände. Sie führen mich quasi an der Hand durch die Höhen und Tiefen der entsprechenden EP und lassen mich den Spaß und die Hürden die die bands bei der Produktions der Zwergalben durchlebt haben und übergehen mussten, wiedererleben, all die Power, die hineingesteckt wurde, überträgt sich während des Anhörens auf den Hörer. Umrahmt von der musikalischen Kunst des Metals und der blühenden, ja beflügelnden Essenzen die darin verborgen sind, haben sie einen unendlichen und zeitlosen Flair, der nie an Bedeutung und ansehnlichem Einfluss verliert und es obendrein noch ermöglicht, schier in nie endender Dauerschleife durchzuhören, ohne Interesse zu velieren, weil man doch immer noch etwas entdeckt, dass vorher nicht wahrgenommen wurde.

CG_2008_extended_play

Kleiner und zugleich größer

Ich finde, dass obgleich in den EPs weniger Titel enthalten sind, sie doch meistens eine viel größere Reichweite haben als die klassischen LPs und sie zudem noch mehr den Ursprung und das nackte und schonungslose Destillat der meisten Bands offenbaren.

 

Bandentwicklung: Ein notwendiges Gut oder ein nerviges Laster?

Ich habe aber das Gefühl, dass je älter, bekannter und beständiger eine Band wird, leider auch desto mehr die Expieimentiefreudigkeit und der Spaß an Herausforderung verloren geht und der ursprüngliche Glanz bzw. der eigentliche Spirit von EP zu LP zu aktuellerem LP zu VVVLP (VVVery Long Play) immer mehr verblasst.
Ich will damit natürlich keiner Band den Entwicklungsfreiraum vorenthalten. Entwicklung ist ein schöner und notwendiger Prozess in der Musik und der Historie einer Band, doch will ich im gleichen Atemzug den Vorwurf andeuten, dass Ruhm und Bekanntheit träge und faul macht… warum sollte sich eine Band nach erfolgreich veröffentlichter LP auch noch großartig anstrengen, wenn die Verkaufszahlen stimmen? Das Licht des Musikgeistes, so habe ich das Gefühl, wird von der Summe an Geld erlischt, wie wenn man einen Haufen Münzen über eine Kerze schüttet, deren Schein unter der erdrückenden Masse erstickt. Dann kann man nur noch hoffen, dass eine neue Band mit frischem Herzblut wieder neue EPs macht, die evtl. sogar durch die Vorgängerbands inspiriert wurden. Das ist der Kreislauf des Kapitalismus gepaart mit dem allgegenwärtigen Prinzip der Entwicklung…

In welchem System müssten wir leben, dass eine Band seinen Spirit behält und immer endgeile Kompreessionsmucke ohne unnötige Ausschmückungselemente fabriziert?

Sehe ich das falsch, dass die Entwicklung einer Band im Konflikt zu derer ursprünglichen Natur steht? Was denk ihr dazu?
Teilt ihr meine Meinung, dass EPs eine schöpferische Kraft in sich tragen und eine pure, geballte Kraft äußern, die man so in regulären Alben nicht findet?
Ganz ehrlich, in einer EP ist die Wahrscheinlichkeit bei mir persönlich um ein Vielfaches höher, dass ich ausnahmlos jeden Song fantastisch finde, währen ich bei LPs oft das Gefühl habe, manche Stellen überspringen zu wollen. Geht es euch da ähnlich?
Oder kennt ihr die EPs eurer Lieblingsbands überhaupt? Wenn nicht ich kann euch nur empfehlen, in diese mal reinzuhören, vielleicht empfindet ihr ja auch wie ich…?

 

Halt. Halt. Vergesst was ich zuvor alles sagte, da ich mich mir hier eh wieder komplett widerspreche…

Letztlich bleibt mir nur noch zu sagen, dass es auch umgekehrt sein kann, wie bei mir mit BRING ME THE HORIZON: Manchmal sollte man sich die EP nicht geben, da man Gefahr läuft, die Band als Embryo (noch vor der Rohbau-Phase) zu erleben und in musikalisch nicht entwickelter oder nicht vollkommen ausgereifter Form zu hören. Ich finde zum Beispiel das erste Album von BMTH (namentlich Count Your Blessings) das epischste Album number one überhaupt, während ich deren EP (This Is What the Edge of Your Seat Was Made For, 2004 veröffentlicht) viel schwächer finde. Da ist Count Your Blessings musikalisch betrachtet auf einem viel höheren Niveau, als die EP. Ein Unterschied wie Mount Everest und Vaalserberg…

Die Tendenz liegt bei mir aus den genannten Gründen aber grundsätzlich definitiv bei den EPs.

Standard

Hinterlasse einen Kommentar